Revolution in der Dunkelkammer

Das Forschungsprojekt widmet sich der Erforschung eines der bedeutendsten, jedoch kaum systematisch untersuchten Kapitel in der Fotogeschichte des balkanisch-anatolischen Raumes, das sowohl die visuellen Kulturen als auch das historische Selbstverständnis in der Region nachhaltig geprägt hat. Hervorgegangen ist aus dieser bis in die 1850er Jahre zurückreichenden und wohl deshalb umso folgenreicheren Bildtradition ‚revolutionärer‘ Fotografie eine beachtliche Anzahl an fotografischen Selbstzeugnissen osmanischer Arbeitsmigranten, die heute zu den zentralen Symbolfiguren kollektiver Sinnstiftung sowohl dies- als auch jenseits des Bosporus gehören. Eine die zahlreich erhaltenen Fotografien systematisierende bildhistorische Analyse, ergänzt durch einen expliziten kulturanthropologischen Zugang, soll sowohl Erkenntnisse über die sozialgeschichtliche Dimension dieses Bildphänomens liefern, als auch dessen gesellschaftliche und kulturelle Bedeutsamkeit für die Gegenwart erschliessen. Über die literarischen und historischen Quellen hinaus, die in den ersten beiden Teilprojekten im Zentrum stehen, werden hier visuelle Aspekte von Identitätsdiskursen hervorgehoben.

Den Ausgangspunkt der Analyse bildet der balkanische Ableger dieses regionalspezifischen Fotogenres, nicht nur weil er exemplarisch für die Genese der Gattung ist und somit eine überschaubare Eingrenzung des Untersuchungsfeldes ermöglicht. Eine Fokussierung auf die balkanische Migrationsfotografie der hamidischen Zeit (1870er bis 1910er Jahre) erlaubt aufgrund ihrer zeitlich wie geografisch bedingten charakteristischen Ausprägung zudem grundlegende Einsichten in die historischen Mechanismen visueller wie kultureller Austauschprozesse zwischen sozio-kulturellen und politisch divergenten Grossräumen im 19. Jahrhundert. Denn trotz ihres heterogenen Charakters weisen die fotografischen Porträts eine Einheitlichkeit in den stets wiederkehrenden Bildmotiven und den habituellen Elementen auf, die allesamt auf eine bewusste Aneignung bestimmter zentraleuropäischer visueller Formen sowie kultureller Normen und Werte schliessen lassen. Die zur Diskussion stehenden fotografischen Artefakte werden somit weniger als bildgewordene Manifestationen nationaler Segregationsprozesse verstanden, wie sie bis heute mehrheitlich interpretiert werden, sondern vielmehr als visuelle Orte einer fortdauernden kulturellen Transformation zu untersuchen sein.Vor diesem Hintergrund stellt sich umso dringlicher die Frage nach der konstitutiven Bedeutung von Intervisualität und kulturellem Transfer für die Homogenisierung von historischen Wahrnehmungs- und Repräsentationsmustern im Osten Europas sowie nach der dabei wirksamen kulturellen Funktion migrierender Milieus. Die fotografischen Selbstzeugnisse osmanischer Migranten stehen exemplarisch für diesen noch weitgehend unerforschten Aspekt des interkulturellen Transfers zwischen dem Osmanischen Reich und seiner Nachbarstaaten im 19. Jahrhundert. Die Artefakte dienen dabei nicht nur als primäre historische Quellen, sondern werden zugleich als historischer Ort der Begegnung und Transformation von Selbst- und Fremdwahrnehmung an der balkanisch-anatolischen Grenze Europas betrachtet. Ihre Analyse gibt Aufschluss über die kulturellen Schnittstellen zweier sozial-politischer Grossräume und über die Transfermechanismen bei der Konstruktion von Wahrnehmungs- und Repräsentationsmustern im östlichen Europa vom 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit.

 

Kontakt

Prof. Dr. Martina Baleva
FAG Stiftungs-Assistenzprofessur für Kulturelle Topographien Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert

c/o Kompetenzzentrum Kulturelle Topographien
Nadelberg 6
CH-4051 Basel

martina.baleva-at-unibas.ch