19. - 21. November 2009 'Narrative Muster zwischen Gastfreundschaft und Ausgrenzung'
Tagungsbericht von Simon Aeberhard (Basel)
Die international besetzte literaturwissenschaftliche Tagung 'Narrative Muster zwischen Gastfreundschaft und Ausgrenzung', die zwischen 19. und 21. November 2009 in Basel stattfand, nahm sich vor, die philosophisch und politisch hoch virulente Figur des Gastes aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten: Nicht nur thematisch sollten einschlägige Stellen in den Fokus gerückt werden, wo der Gast als prominente Figur vornehmlich in der deutschen Erzählliteratur auftaucht, sondern die Situation der Gastlichkeit sollte auch systematisch in den Blick geraten: etwa methodisch als minimale Handlungsstruktur, welche ganz bestimmte narrative Muster herausbildet, oder theoretisch, indem das Verhältnis des Gastes zu seiner Umwelt heuristisch auf die Sprache im poetischen Text übertragen wird. Die beiden Veranstaltenden, Evi Fountoulakis und Boris Previšić, machten in ihrer Einführung außerdem darauf aufmerksam, dass die Denkfigur des Gastes als der / die / das Andere resp. als eingeschlossener Ausgeschlossener resp. als Drittes, das es nicht gibt, – jedenfalls als Figur, welche in der logischen Aufhebung von Oppositionen nicht aufgeht – darüber hinaus Anlass gibt, politische, ethische, mediale, unterscheidungslogische und topologische Verhältnisse zu überdenken.
Eröffnet wurde der Reigen der ausnahmslos fundierten und bei aller Variablität des Themas und der Fachgebiete wohlkonzentrierten Vorträge von Hans-Dieter Bahr (Tübingen), welcher mit seiner vielbeachteten "Meta-Ethik" Die Sprache des Gastes (1994) die Thematik bekanntlich allererst dekonstruktiv begründet und in diesem Sinne für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht hatte. In seinem Referat zu "Spuren des Gastes" versammelte der philosophische Ästhetiker ein dichtes Panoptikum der Gastlyrik von Luther bis ins 20. Jahrhundert. In systematischer Hinsicht wurde auf diese Weise eine der Tagungsthesen gleichzeitig anhand der versammelten Typologie insgesamt und in jedem einzelnen Fallbeispiel unmittelbar anschaulich: dass nämlich der Status intensivierten Sprachgebrauchs in einem literarischen Text der Semantik von Gastlichkeit exakt gleicht. In historischer Hinsicht markierte Bahr einen Bruch um 1900: War die Stelle des Gastes auch vorher schon nicht 'nach dem Wurf' als logisches Sub-, Pro- oder Ob-jekt zu bestimmen, verschwindet er im 20. Jahrhundert zusehends von der expliziten Textoberfläche.
Das zweite Referat von Burkhard Liebsch (Bochum) unter dem Titel "Sprache und Erzählung im Kontext einer Kultur der Gastlichkeit" eröffnete eine grundsätzliche Unterscheidung. Zu differenzieren, so Liebsch, sei zwischen einer primären, begrifflichen Gastlichkeit, die sich weder ignorieren noch verneinen lässt und in der grundsätzlichen und vor-ethischen Ansprechbarkeit des Subjekts besteht (Lévinas), und einer sekundären Gastlichkeit, welche in den konkreten Situationen der Hospitalität besteht. Da jede konkrete Gastlichkeit aufgrund ihrer notwendigen Beschränkungen die primäre als deren konstitutiv mangelhafte Realisierung nie vollständig einzuholen vermag, spielt sich im Zwischenraum zwischen primärer und sekundärer Gastfreundschaft das sprachliche und das narrative Potential des Gastes ab.
Alexander Honold (Basel) nahm sich einem erzählerischen Modell des späteren Handke an ("Erzählte Ökumene. Peter Handkes interkulturelle Landschaften und ihre Feinde"), das er insbesondere anhand von Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) ausführte. Die Grundthese dabei lautete, dass sich bei Handke eine ästhetische Erzählgemeinschaft ausgehend von einem geologischen Blick nach außen konstituiert und in einer sich gegenüber diesem (auch politischen) Außen schützenden Hülle auf diese Weise – nach dem Modell der Rahmenhandlung von Novellen – dem Ideal mündlichen Erzählens nähert. Innerhalb dieser Poetik der mehrstimmigen Gastlichkeit, die bei genauerem Hinsehen nicht einfachhin affirmiert wird, wird dieser These gemäß die Möglichkeit von Literarizität überhaupt verhandelt.
"Auf der Schwelle verharren. Zu einem Erzählmuster der Moderne", lautete der Titel des Vortrags von Ralf Simon (Basel), der ein geschichtsphilosophisches Theorem, wonach die Erfahrung der Gastlichkeit in der Moderne verloren ist, mit einem struktural-anthropologischen Ansatz der Universalität der (primären) Gastlichkeit verkreuzte. Die Schwelle, über der Gast eintreten sollte, erweist sich dabei in der Moderne als 'noch nicht einmal Nicht-Ort', der keine Erzählmuster zu generieren vermag, wohl aber eine Form von Prosa, welche die lineare Narration gerade unterläuft und Handlung dekonstruktiv sistiert.
Die Mitorganisatorin Evi Fountoulakis (Basel) unterwarf unter dem Titel "Gast, Gesetz, Genealogie" Adalbert Stifters späte Erzählung Der Kuß von Sentze (1866) einem theoretisch avancierten Reading. Der Tatsache, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend Verwandte statt Fremde an die Stelle des Gastes treten, steht bei Stifter die überregulierte Szenerie gestörter intrafamilialer Verhältnisse entgegen. Das singuläre, weil überraschende und gemäß den Erwartungsstrukturen unmögliche Ereignis des spontanen und heimlichen Kusses im Zentrum des Textes, rückt dabei vor allem die Position des Erzählers in den Blickpunkt, welcher zwischen zweifelhafter Zeugenschaft und (unzuverlässigem) Anderen schwankt.
Csongor Lörincz (Berlin) zeigte anhand von Kleists Verlobung in St. Domingo (1811), hier insbesondere der Eröffnungsszene und der Binnenerzählungen, die Unsicherheit auf, in welche ein Sprachgeschehen unter den Bedingungen der Gastlichkeit gelangen kann, wenn dabei weder konventionelle Geltungen oder Begründungen noch referenz-garantierende Autoritäten zur Verfügung stehen. Die titelgebende Reihung "Gast – Vertrag – Tod" ließ denn auch den sprachlichen Ausnahmezustand augenfällig werden, in welchen die Sprache des Gastes ohne verlässlich pragmatischen Kontext führen kann.
Einen etwas anderen Ansatz wählte Luigi Reitani (Udine) in seinem Referat "Entgrenzungen und Annäherungen", wenn er sich dem Prosawerk (Krieg und Welt) (2006) des österreichischen Lyrikers und Übersetzers Peter Waterhouse annahm. In dieser 'autobiographischen Fiktion' des Sohns eines britischen Geheimdienstoffiziers spiegelt sich auf referenzieller wie poetologischer Ebene das Leben eines ewigen Gastes, sozusagen das Exil auf Permanenz.
Boris Previšić (Basel), ebenfalls Mitorganisator der Tagung, nahm den Terminus 'Mitteleuropa' diskursanalytisch mit der These unter die Lupe, dass es sich dabei um eine "Imagination eines Unortes" handle. Die Prägung der Begrifflichkeit, die erst durch die Auflösung der zwei Europas signifikant politisiert wurde, erweist sich dabei als intrikate Mischung zwischen geopolitischem Gespenstergerede und essayistischem Gegendiskurs. Die Dekontextualisierung, Demythisierung und Dezentrierung, welche der Mitte Europas dabei im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte widerfuhren, weisen die topologische und topographische imaginäre Kraft der Vorstellungen auf beiden Seiten der vermeintlichen Grenzen eines Mitteleuropas nach.
Einen weiteren Vortrag zu Handke, diesmal aber mit einem Schwerpunkt auf die Publikations- und Übersetzungssituation in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, lieferte Svjetlan Lacko Vidulić (Zagreb). Teilten sich die Übersetzungen ins Serbokroatische / Kroatoserbische vor 1991 noch den jeweils gesamten überregionalen Kulturraum, ändert sich das mit der polemischen politischen Verortung Handkes abrupt. Der als ethnisch kodifizierte Transferakt fand bis 2007 nur noch in Serbien und hier auch dezidiert nationalistisch instrumentiert statt. Schon davor aber hatte die Figur Handke im literarischen Feld durch die geographische Nähe zu Slowenien Nationalisierungstendenzen befördert.
Milka Car (Zagreb) beschäftigte sich in ihrer Analyse der beiden Gegenwartsromane Die Archive der Nacht des jungen kroatischen Autors Igor Štiks und Die Winter im Süden von Norbert Gstrein unter dem Titel "Zu Gast im eigenen Land" mit der Problematik, die dadurch angedeutet wird, dass sich die Rückkehr auf der Suche nach der eigenen Identität inmitten der jugoslawischen Sezessionskriege in beiden Romanen als tödlich erweist. Sie machte dabei deutlich, inwiefern der identifikatorische Diskurs zwar literarisch als unabwendbare Heimsuchung der Vergangenheit inszeniert wird, dass sich aber dennoch in Gegenlektüren vor allem der weiblichen Figurenreden Alternativmodelle anbieten. Ein postkolonialer Theorieansatz in Anlehnung an Derrida und Said erlaubt so jenseits von 'Schuld und Sühne' zwar keine harmonische Auflösung, aber eine Offenlegung des Prekären diskursiver Eindeutigkeit gerade auch angesichts der in Europa nicht mehr für möglich gehaltenen kriegerischen Gewalt.
In einer strukturalistisch induzierten Analyse von Kriegsheimkehrern bestimmte Rolf Parr (Bielefeld) das Grundsetting des sprachlosen Subjekts auf der Schwelle zu seinem vermeintlichen Heim als untypische Gastlichkeit. Die spezifischen Fallbeispiele erweisen sich dabei nicht nur als Bestätigung und Variation des einen Handlungsmusters, sondern zeigen zudem auf, dass gerade in spezifischen Genremischungen und in den dadurch ermöglichten Distanznahmen im Erzählen ein Beobachtungsstatus generiert wird, welcher eine reflexive Metaebene des Geschehens zulässt. Auf diese Weise stellt das Bedingungsgeflecht untypischer Gastlichkeit einen Narrationsmodus her, der als genuin literarisch aufgefasst werden muss.
In der Abschlussdiskussion wurde nochmals deutlich, dass es keinen Sinn macht, alle Beiträge auf ein einheitliches methodisches oder thematisches Paradigma zurückzuführen, da sie auf verschiedenen Diskursebenen angesiedelt sind und dadurch gerade die Reichhaltigkeit des vorgeschlagenen Themas zum Ausdruck kommt. In der Engführung von Sprache und Erzählung wird zwar die Grundbedingung von Gastlichkeit formuliert; doch erst in der Reflexion der eigenen Diskursposition, in der Situierung auf einer primär literaturwissenschaftlichen, ethisch fundierten, politisch kritischen oder historisch begründeten Ebene ist eine auch begrifflich konzis gefasste Zirkulation dazwischen möglich. Dennoch hat sich als unverhofft gemeinsamer Nenner literarwissenschaftlicher Analysen ein Zusammenhang zwischen Genrewechsel (Lyrik / Prosa, Mündlichkeit / Schriftlichkeit, Roman / Krimi etc.) und Genealogie im Sinne der Fortführung von Kultur, welche sich in der Gastlichkeit ihrem inzestuösen Niedergang entzieht, herausgestellt.
Die angekündigten Vorträge von Georg Mein (Luxemburg), Gerald Wildgruber (Basel) und Ortrud Gutjahr (Hamburg) konnten krankheitsbedingt leider nicht stattfinden. Angesichts der intensiven und facettenreichen Behandlung der Thematik, die bei aller Diversität konzentriert und fokussiert blieb, konnte aber nicht zuletzt durch die Voraussicht der Organisatoren und dank der kurzfristigen Zusage durch Burkhard Liebsch verhindert werden, dass deswegen fühlbare Lücken entstanden wären.
Ein Tagungsband ist in Planung, der die Vorträge versammeln soll; darin werden die Anschlüsse an das Kompetenzzentrum „Kulturelle Topographien“ in der historisch-geographischen Spezifizierung der Diskurse, an den narratologischen Schwerpunkt des Deutschen Seminars im literaturwissenschaftlichen Instrumentarium zur Analyse der „narrativen Muster“ sowie an die thematischen Forschungsschwerpunkte der beiden Organisatoren Evi Fountoulakis (zur Gastlichkeit im 19. Jahrhundert) und Boris Previšić (zur deutschsprachigen Rezeption der jüngsten jugoslawischen Sezessionskriege) deutlich.