Island. Topographien zwischen Geschichte und Landschaft

island

Ringvorlesung Herbstsemester 2015, Kollegienhaus Hörsaal 120

Island übt auf die Vorstellungskraft der Aussenwelt seit je eine eigentümliche Faszination aus. Während die Insel früher vor allem für Naturwissenschaften wie die Vulkanologie, Geologie, Glaziolologie und Kultur- und Geisteswissenschaften wie die Religionsgeschichte, Literatur- und Spachwissenschaft ein attraktives Forschungsgebiet darstellte, treten in jüngerer Zeit vermehrt Phänomene der gegenwärtigen isländischen Gesellschaft und Kultur wie der Energiesektor oder der Tourismus in den Vordergrund.

Die Ringvorlesung an der Universität Basel setzt sich zum Ziel, aus der Perspektive einer Reihe unterschiedlicher Fachdisziplinen Island als einen sowohl historisch wie aktuell gleichermassen interessanten Raum zu diskutieren. In einer Abfolge von 13 Vorträgen von Vertreterinnen und Vertretern so unterschiedlicher Fachgebiete wie der Geologie, Geografie, Energiewissenschaft, Urbanistik, Tourismus, Architektur, Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Fotografie, Literatur u.a. wird das Thema ‚Raum‘ / ‚Topografie‘ im interdisziplinären Diskurs an verschiedenartigen Fallbeispielen analysiert. Der historischen Dimension der isländischen Kulturgeschichte, begonnen bei der altnordischen Mythologie bis hin zur gegenwärtigen Kunstszene, wird in den Vorträgen ebenso Beachtung geschenkt wie sozialen, wirtschaftlichen, demografischen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Konkrete Punkte, die in den Vorträgen besprochen werden, sind etwa ökokritische und geopoetischen Ansätze in der Erforschung der isländischen Kulturgeschichte, die Darstellung von Schauplätzen aus der mittelalterlichen Sagaliteratur mit Mitteln der Malerei und der Fotografie, das Verhältnis von Urbanistik, Energieformen und neuen Medien usw.

Als besonderes Merkmal dürfen die Auftritte von zwei namhaften isländischen Autoren, die sich in ihren Werken zentral mit Fragen von Intermedialität und Umweltengagement befassen, sowie eines bekannten Kulturredaktors und Fotografen bezeichnet werden. Insgesamt beabsichtigt die Ringvorlesung somit auch eine Überwindung der traditionellen Trennung in den Zugängen zwischen Kultur- und Naturwissenschaften und versucht eine neue, disziplinäre Grenzen überschreitende Betrachtung auf das Phänomen Raum, Landschaft, Natur zu eröffnen.

Programm

17. September, Jürg Glauser, Universitäten Basel und Zürich
Island. Topographien zwischen Geschichte und Landschaft. Eine Einführung.

24. September, Klaus Müller-Wille, Universität Zürich
Schräges Hinterland – Zum Verhältnis von Avantgarde und Provinz in der isländischen Literatur der Moderne.

1. Oktober, Florence Croizier
Ein Pastor auf Fuchsjagd. Erinnerungs- und Gedächtnisräume in der zeitgenössischen isländischen Literatur.

8. Oktober, Ursula Giger, Universitäten Basel und Zürich
Orte des Schreibens. Die UNESCO Literaturstadt Reykjavík.

15. Oktober, Björn Oddsson, ETH Zürich
Einige Aspekte der Geologie von Island – Urquelle der isländischen Inspiration. Über Vulkane, Wasserkraft und Geothermie in der Geologie des Mikrokontinents.

22. Oktober, Harry Gugger, EPFL Lausanne
Industrial Landscape, Iceland: The industrial appropriation of Nature.

29. Oktober, Lukas Rösli, Universität Basel
Alles nur ein Mythos? – Die Prosa-Edda und das geographische Wissen des Mittelalters.

5. November, Einar Falur Ingólfsson, Island
Saga-Sites – Different times, different perceptions.

Over a three year period Icelandic artist Einar Falur Ingolfsson used as his guide to sites mentioned in the Icelandic sagas, watercolours the English artist, writer and aesthetic W.C. Collingwood painted in Iceland in 1897. In 2007-2009 Ingólfsson photographed with a big field camera at the same sites where Collinwood painted and compared with his own objective approach the subjective ways of the English artist.

Ingólfsson has exhibited his work with Collingwood's and his book, Saga-Sites -- In the Footsteps of W.G. Collingwood was nominated to the Icelandic literery award. In his talk Ingólfsson will look at and discuss the different approaches to the Saga-sites, the different times of the two artists and different perspectives on the Sagas and the visual art.

12. November, Hallgrímur Helgason, Island
The Magnificent 7%. Making the case for art in the time of need

19. November, Vera Bühlmann, ETH Zürich
Northern Pioneers.

Iceland sits on new ground, quite literally, and with it atop an immense and inexhaustible, direct source of energy. This is unique.

Icelanders, meanwhile, are few in number and far from anywhere else. This, too, is unique.

Icelandic society is well-educated and fully enfranchised according to a Danish democratic model, having been colonised right until the mid-20th Century. This, again, is unique.

Today, Iceland has it all: its own language and literature; more cars per head than the US; plenty of fish, fresh water and energy; airports, airlines, power stations, petrol stations; public baths, concert halls, the internet and mobile phones; universities, schools and kindergardens; volcanoes (noticeably); tourism; 7/24 shops with the best strawberries we’ve tasted anywhere in the world in five years; public transport; newspapers, radio and TV stations; music; political parties; nationalism; banks and bankrupcy... - but no Prada, no McDonald’s. In fact, hardly any international brands at all, because Iceland, it appears, is just too remote and its population too small for big global corporations to feel it merits their presence. 

But how is it possible for all this - the whole set-up - to work, with a population of only 300,000, in the middle of nowhere? The answer is: ‘copy and paste’. Copy the ways they do things elsewhere and paste them into your own situation, more or less as you find them, adapting them slightly to your own particular needs. This principle, when applied to all different spheres of life, creates unusual, sometimes startling effects. Could this particular cultural and ecological constellation provides the perfect framework for the people of Iceland to become pioneers in how to work out what the French philosopher Michel Serres calls „The Natural Contract“ (1990)?

26. November, Andri Snær Magnason, Island
Literatur und Ökologie

3. Dezember, Reinhard Hennig, Mid Sweden University
Saga-Ökologie: Naturressourcen, Umweltbedingungen und kulturelles Gedächtnis in der altnordischen Literatur.

Wie nutzten frühere Gesellschaften Naturressourcen und reagierten auf Umweltveränderungen? Die mittelalterliche Sagaliteratur Islands ist für die interdisziplinäre Erforschung vormoderner Mensch-Umwelt-Dynamiken als Quelle besonders interessant. Die Sagas beschreiben nicht nur die Geschichte Islands von der Besiedlung um 870 n. Chr. bis zum Spätmittelalter, sondern auch vergangene Umweltbedingungen im Kontext einer nahezu ausschließlich landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft, die sich in Wikingerzeit und Mittelalter mit vielfältigen Umweltrisiken und Veränderungen von Ökosystemen und Klima konfrontiert sah. Jüngste Erkenntnisse aus Archäologie und Umweltgeschichte werfen nun ein neues Licht auf diese literarischen Texte. Dabei zeigt sich: Die Sagas verfahren kreativ und selektiv in ihren Beschreibungen früherer Umweltbedingungen. Die Umwelt Islands spielt in ihnen eine wichtige Rolle für die Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses, das den Interessen bestimmter sozialer Gruppen zur Zeit der Abfassung der Sagas entspricht.

10. Dezember, Martin Schuler, EPF Lausanne
Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte Islands.

Seit der Landnahme bis weit ins 19. Jahrhundert lebte die Bevölkerung Islands ausschliesslich auf Einzelhöfen, verstreut über alle Landesteile. Nach die Bevölkerungszahl nach der Vulkankatastrophe der Laki-Krater von 1783 mit 50'000 einen Tiefpunkt erreicht hatte, nahm während des 19. Jahrhunderts die Einwohnerzahl dank starkem Geburtenüberschuss zu, zunächst überwiegend durch Verdichtung in ländlichen Gebieten und Ausdehnung des Siedlungsgebietes ins höher gelegene Innere des Landes. Ab den 1870er Jahren wanderte ein Teil des ländlichen Arbeitskraftüberschusses nach Amerika aus. Erst um 1890 wurde es Fischern erlaubt, ganzjährig in Küstensiedlungen zu leben, so dass Dörfer und neue Einzelhöfe am Meer entstanden. Reykjavík, das um 1800 erst 300 Einwohner zählte, stieg rasch zum wichtigsten urbanen Pol auf.

War lange Zeit das Pferd das Haupttransportmittel, brachte die Schifffahrt eine neue Orientierung auf die Küstenorte. Strassen- und Brückenbau im beginnenden 20. Jahrhundert führten wiederum zu einer Aufwertung der Landverbindungen und zur Herausbildung von Dörfern mit regionalen Dienstleistungen und Verarbeitungsstätten landwirtschaftlicher Produkte. Während nie ein Eisenbahnprojekt realisiert werden konnte, brachte der Ausbau der Flugverbindungen ab 1960 eine Aufwertung der wichtigsten regionalen Zentren in jedem Landesteil.

Seit 1880 nimmt die Zahl der Einwohner im ländlichen Gebiet (definitionsgemäss auf Einzelhöfen lebend) in absoluten Zahlen ab; in relativen Werten wohnen heute nur mehr 5% der Isländer "auf dem Land", rund ein Drittel in städtischen Siedlungen ausserhalb von Gross-Reykjavík und 60% in der Hauptstadtregion. Die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe geht trotz beträchtlicher öffentlicher Unterstützung zurück, in den vergangenen Jahren in noch verstärktem Masse. Die Umstrukturierungen im Fischfang hat die Beschäftigtenzahl in diesem Sektor in den letzten 30 Jahren stark absinken lassen. Da nicht allein fast alle spezialisierten Dienstleistungen sich auf Reykjavík konzentrieren, sondern auch die meisten der grossen Industriebetriebe auf Energiebasis im Hauptstadtgebiet angesiedelt werden, wird die räumliche Verteilung von Wirtschaft und Bevölkerung immer einseitiger. Der (Sommer-)tourismus erscheint so als die wichtigste Branche ausserhalb der Hauptstadt.

Trotz Rückgang der Natalität bleibt die Kinderzahl in Island noch immer recht hoch; trotz langer Lebenserwartung ist die Bevölkerung im europäischen Vergleich wenig überaltert. Die Abwanderung aus Island ist ein altes Phänomen, doch ist die Rückkehrquote vergleichsweise hoch. Seit den 1990er Jahren ist Island zum Einwanderungsland geworden, wobei die Zuzüger vor allem in den traditionellen Wirtschaftszweigen die ausscheidenden Einheimischen ersetzen. Die berufliche Qualifikation der isländischen Arbeitskräfte gehört zu den höchsten weltweit.